
Ein greller Pfeifton holt mich zurück in die Realität. Mit einer fahrigen Handbewegung rupfe ich meine Kopfhörer herunter und drehe mich um.
«Get down there! No climbing, get down! It is forbidden to sit there, get down!»
Ist ja gut. Ich hebe den rechten Arm und gebe dem wild gestikulierenden Wachmann mit einem Winken zu verstehen, dass ich ihn gehört habe, worauf er abrupt kehrt macht und jemand anderem hinterher pfeift. Umständlich verstaue ich den iPod mit dem dazugehörenden Kabelwirrwarr in meiner Umhängetasche und lasse noch einmal meinen Blick über die Stadt unter mir schweifen. Es ist heiss, die Luft flirrt über den Dächern, von denen viele mit Dachterrassen gekrönt und üppig bepflanzt sind. In der Ferne ist schwach das Glitzern des Meeres zu erkennen und wäre das stete Brummen nicht, käme das ganze Szenario einer Idylle wirklich nah. Aber es ist da, das Brummen, die Sirenen im Minutentakt und das Wissen, dass das Geschehen da unten nicht viel mit einem friedvollen Leben zu tun hat. Eine voreingenommene Haltung, schon klar, die viel mit meiner Arbeit, die mich hierher geführt hat, zu tun hat. Sie lässt mich die pralle Schönheit und Lebendigkeit mit anderen Augen sehen, was meine Liebe zu dieser Stadt jedoch nicht schmälert sondern stärker macht. Ich schwinge meine Beine über die Mauer und klopfe mir den allgegenwärtigen Staub von den Hosen. Immerhin Staub mit Geschichte, denke ich dabei, das verlangt einen gewissen Respekt. Also klopfe ich respektvoll. Nicht, dass mich die Vergangenheit im Moment interessieren würde, doch die eingerüsteten Tempelanlagen an stolzer Lage hinter mir lassen keinen Zweifel daran, in welch historischem Zentrum ich mich befinde.
«Excuse me, is it the first time, you’re visiting Athens?»
Leicht lispelnd wendet sich ein japanischer Tourist an mich.
«It’s amazing, isn’t it? I can barely imagine the life they had ages ago…Where are you from?»
«Switzerland, I am from Switzerland, but I am working here…», weiter komme ich nicht. Der Mann gehört einer fröhlichen Truppe von Besuchern an, die sich wohl ausgerüstet mit Rücksäcken und Kulturführern um mich scharen. Sie nicken mir aufmunternd zu und scheinen etwas zu erwarten von mir. Die Bewegungen ihrer Basecaps in Weiss und Blau mit dem aufgestickten Schriftzug ‚Visit Athens’ bewegen sich alle synchron, als wären sie choreografiert.
«Oh, Switzerland, how beautiful! Your home! Amazing!»
Begeisterte Ausrufe rundum und ich verstehe nicht ganz, was denn so interessant sein soll daran.
‚Nein, nicht mein Zuhause, nur meine Heimat’, möchte ich gerade antworten, als mir ein imposanter Fotoapparat entgegengestreckt wird.
«Please, could you take a picture from us? So kind, oh, you’re so kind, please…»
Welch ungewöhnliche Frage in Zeiten der Selfie sticks! Ich versuche mich also als Fotografin und mache mich fünf Klicks und drei Verbeugungen später an den Abstieg über die ausgetretenen und leicht rutschigen Stufen. Sie glänzen dezent in der Nachmittagssonne und fordern Achtsamkeit bei jedem Tritt. Die Antike verschwindet hinter mir und ich widme mich wieder dem Leben im Gewirr der engen Gassen. Der Welt der touristischen Tavernen, der Strassenverkäufer und ihren glühenden Anpreisungen, der gestrandeten Hippies mit ihren farbigen Bändern in den Haaren, der Bettler und der Obdachlosen.
Der Weg dorthin ist an Symbolik kaum zu übertreffen. Von der organisierten, aufpolierten und mit Do-not-enter-Plastikbändern eingeschränkten Welt Stufe um Stufe hinunter über breite und mit wunderschönen Sträuchern und blühenden Bäumen eingefasste Strassen, die schliesslich zunehmend enger und schmutziger werden. Es stinkt hie und da nach Urin, die Gehsteige schwinden zur Handtuchbreite, der Verkehr drängt sich an Fussgängern und parkierten Autos vorbei. Der Tumult ist unüberschaubar und laut. Die Händler sitzen hier auf dem Boden, ihre selbstgefertigten Schmuckstücke auf Tüchern ausgebreitet. Meist sind es Armbändchen in den abenteuerlichsten Farbkombinationen, manchmal mit eingearbeiteten Glasperlen oder kombiniert mit Symbolen aus aller Welt. Oft preisen sie Ringe aus einfachem Draht oder Konterfeis von griechischen Göttern an. Die Strassenmusiker tragen hier keine Trachten mehr und ihre Musik ist unverstärkt, rauh und eindringlich. Das ist meine Welt, auf die ich mich eingelassen habe. Eine Welt, in der ich mit meinen Partnerinnen daran arbeite, den geflüchteten und obdachlosen Frauen mit ihren Kindern zu einem Silberstreifen zu verhelfen. Wobei wir das Wort Flüchtling selten verwenden, es ist hier nicht mehr erwünscht. Nach Möglichkeit versuchen wir es zu umschreiben, zu meinem Verdruss oft auch von mir. Fällt das Wort ‚Flüchtling’, gestalten sich die Verhandlungen mit den Hausbesitzern zäh. Die Blicke werden skeptisch, die Haltung abwehrend, was bei der wirtschaftlichen Situation der Einheimischen hier auch verständlich ist. Doch es gilt, den Kompromiss zu finden, um unser Ziel zu erreichen. Also benutze ich, benutzen meine Partnerinnen und ich, oft das Wort ‚Benachteiligte’ oder ‚Obdachlose’, und dass wir dabei sind, ein Zentrum für die vielen Menschen zu eröffnen, die hier gestrandet sind und für die es – im wahrsten Sinne des Wortes – kein Weiterkommen gibt. Ein Haus mit Angeboten für die Verdrängten in dieser Stadt. Hilfe für die Frauen, die irgendwo auf dieser Welt noch eine Heimat haben, aber nirgendwo zuhause sind. Ein Gefühl, das ich nur zu gut kenne. Nicht, dass meine Situation mit jener dieser Menschen verglichen werden könnte. Nein, ganz und gar nicht. Ich bin in Sicherheit und wohlbehütet aufgewachsen. Meine Entscheidungen konnte ich stets selber treffen, keine Regierung, kein Eingreifen einer fremden Macht hat mich je dazu gezwungen, alles hinter mir zu lassen und wegzugehen. Weg von meiner Heimat, weg von meinem Zuhause, weg von meinen Freunden und Nachbarn. Aber das Gefühl, nicht Zuhause zu sein an dem Ort, an dem ich jeweils lebe, das ist mir vertraut.
Also bin ich hier, fern meiner Heimat, mitten in der Welt dieser Hoffnungslosigkeit angekommen mit dem Ziel, für jene etwas zu tun, die wirklich Grund haben, sich entwurzelt, heimatlos, verlassen und vergessen zu fühlen. Zu tun was ich kann – und das ist abklären, organisieren und aufgleisen. Versuchen, ein Haus zu finden, die für eine kurze Zeit Zuflucht und Oase ist. Ein Ort, der Schutz bietet, der einem daran erinnern kann, dass es so etwas wie ein Zuhause einmal gab, wieder geben wird. Hoffentlich. Zuversicht ist alles, sage ich mir jeden Tag, doch auch diese Gedanken sind wohl ein Privileg meiner Herkunft.
«Please, please», tönt es von links und rechts. Kinder, ganz kleine mit zerzausten Puppen unter dem Arm und etwas ältere, die es gewohnt sind, mit Touristen umzugehen, treten in kurzen Abständen zu mir, strecken ihre Hände aus, schauen mich mit ihren dunklen und oft teilnahmslosen Augen an. Manchmal ist auch eine wortlose Forderung darin, eine unausgesprochene Anklage, die ich gleichzeitig verstehe und verabscheue, die mich aber vor allem erschreckt. Immer wieder von neuem.
«Please, money», zwei Worte, die alle in Englisch sagen können. Ich verteile meine restlichen Münzen und ein Lachen da und dort und komme mir grad wieder einmal hilflos vor. Diese Blicke treffen tief und ich ärgere mich wie so oft darüber, dass die Situation überhaupt so weit gekommen ist. Ärgere mich, dass hier in dieser Stadt wie in so vielen anderen, diese Art Hilfe überhaupt nötig ist. Gedanken ohne Ausweg. Einfach weitermachen. Weitermachen und nachdenken – ich muss nachdenken und den Fokus wieder finden. Suche nach meinen Kopfhörern und lasse meine Gedanken zu meiner Musik schweifen. Ich vermisse das Gefühl, zuhause zu sein, obschon mir nicht ganz klar ist, was ich vermisse. Mit Heimat hat es jedenfalls nichts zu tun. Das Vertraute, die Zugehörigkeit? Ich weiss es nicht, spüre nur dieses Ziehen in mir und versuche wohl zum tausendsten Mal mir vorzustellen, wie es den Geflüchteten um mich herum ergeht. Zuhause – ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr hatte und nirgends finden kann. Ein luxuriöses Gefühl auch, das mich beschämt in dieser Umgebung.
Die Musik hilft mir beim Denken und dabei, meine Gedanken zu sammeln und vorwärts zu schauen. Mit jedem Schritt sehe ich klarer und da ist sie mit einem Mal in meinem Ohr, meine aktuelle Hymne. Obschon ich längst über die 25 aus bin, mit grauen Haaren in einer fremden Stadt stehe, die ich liebe und die doch nicht mein Zuhause ist, trotz all dem singe ich leise zu den Klängen in meinen Ohren: «Twentyfive years of my live and still, I’m trying to get up that great big hill of hope, for a destination», und ernte hie und da einen verwunderten Blick. Mit einem Lachen gehe ich weiter, werde lauter, geniesse die Freiheit, dies zu tun und fühle mich sogleich beschwingter.
«…and so I wake up in the morning and I step outside and I take a deep breath and I get real high and I scream from the top of my lungs, what’s going on», erhasche die belustigten Blicke vorbeiziehender Touristen, was mich mehr darin bestärkt als daran hindert, weiter zu singen. Das tut richtig gut. Der Song entführt mich in die Erinnerung, lässt mich unvoreingenommen auf meine Gegenwart schauen und zaubert Hoffnung an den Horizont.
«…and so I pray, o my god do I pray, I pray every single day for a revolution». Ich geniesse es einfach und bin mittlerweile dort angekommen, wo das Leben auf der Strasse stattfindet, sei es wohnen, schlafen oder essen.
Mein «And I say, Hey yeah yeaaah! Hey yeah yeah, I said hey, what’s going on?», ist dann mit einem Mal sehr laut. Verwundert drehe mich um und finde mich einer Gruppe junger Frauen und Männer gegenüber, die lauthals mitsingen: «And I say, hey yeah yeaaah! Hey yeah yeah, I said hey, what’s going on?»
Bis zum letzten Refrain und nochmals von vorn. Da stehen wir inmitten dieses Durcheinanders von geschäftlichem Treiben und dumpfer Trostlosigkeit und singen. Einige Kinder hüpfen um uns herum, ein paar Jugendliche klatschen den Rhythmus dazu, wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie uns aus- oder anlachen. Es macht jedenfalls Freude. Bald bleiben die Passanten stehen und betrachten erst verwundert, dann schmunzelnd die Szene. Und zum erstenmal seit Monaten fühle ich mich Zuhause. Für einen kurzen Augenblick ist alles gut. Wir alle sind für einen Moment gleich, egal woher, wie alt und wie gekleidet – wir sind Zuhause, ich bin Zuhause.