Lost in Germania

Vulkan and friends

Diese ist für Thomy!

Als erstes sah ich den Papagei. Entspannt sass er auf einem Apfelbaum, was an diesem vergessenen Ort eine kleine Sensation war. Ich meine den Apfelbaum, nicht den Papagei. Der schien mir gut in diese Wildnis zu passen. Er musterte mich kurz, neigte den Kopf einmal zur einen, dann zur anderen Seite und widmete seine Aufmerksamkeit dann sogleich wieder irgendeinem Geschehen dem ich nicht folgen konnte, da mir besagter Apfelbaum den Blick versperrte.

Noch leicht verwirrt setzte mich mit einem Seufzer auf einen wuchtigen, umgestürzten Baumstamm. Mit einer fahrigen Bewegung streifte ich mir meine Umhängetasche von den Schultern und starrte dann minutenlang zu Boden. Die dunkle, beinahe schwarze Erde war feucht und das dazwischen hervorspriessende Moos knallgrün. Hübsch eigentlich, doch das war im Moment wirklich nicht wichtig, ich hatte ja ganz andere Probleme.

Wie, um alles in der Welt, kam ich hierher? Der leicht übergewichtige und ebenso angetrunkene Schaffner am Bahnhof in jenem Dorf mit Endstation hatte mich noch gewarnt. Mit markigen Worten hatte er versucht, mich davon abzubringen, die Wildnis hinter den Vulkanen zu erkunden. Dass es dort Menschen geben sollte, schien ihm absolut unmöglich zu sein und ich vermute, er zweifelte an meinem Verstand.

«Besuchen? Sie wollen da jemanden besuchen? Sind sie von Sinnen?», rief er aufgebracht, «das ist ein Dschungel, düster, unerforscht und gefährlich!»

Mich konnte jedoch nichts von meinem Vorhaben abhalten und so marschierte ich, entgegen allen Warnungen, los.

«Männer…!», dachte ich.

«Frauen!», schrie er mir hinterher, «nicht zu fassen!»

Allerdings bereute ich meine Sturheit schon nach einigen Stunden, denn – das musste ich dem Dickwanst zugestehen – der Marsch war wirklich kein Zuckerschlecken. Die ersten Kilometer waren kein Problem gewesen. Kontinuierlich ansteigende aber wohl unterhaltene Wege führten mich immer dichter an die Wildnis heran, die von weitem gar nicht wie eine solche aussah. Gut getarnt lag sie vor mir, verheissungsvoll, wie mir zu Beginn schien. Die erste Nacht unter einem prächtigen Sternenhimmel genoss ich sogar richtig. Aber dann, ja dann kam eben der Morgen und brachte es ans Licht – ich war orientierungslos im saftigen Grün des Dickichts gefangen. Der Weg verlor sich im Nichts, der sagenumwobene Geisterwald zu Füssen der binninger Vulkane hatte mich buchstäblich verschluckt.

Natürlich gab es kein Zurück, die Neugier und das Abenteuer lockten und liessen mich alle Vorsicht in den Wind schlagen. Ich kämpfte mich weiter durch das Unterholz, begleitet von dreizehigen Spuren, die tief im sumpfigen Boden eingedrückt waren. Was auch immer sie hinterlassen hatte, musste riesig und unglaublich schwer gewesen sein. Ungemütlich eigentlich, doch damals schien mir das nicht bedenklich – es ist mir schleierhaft, weshalb nicht. Ich stapfte weiter und muss dann wohl irgendwann ein Nachtlager aufgeschlagen haben. Erinnern konnte ich mich jedoch nicht, was mich, im Nachhinein betrachtet, doch sehr hätte beunruhigen sollen.

Und dann, nach drei unendlich langen und anstrengenden Tagen – der Papagei. Mir waren ja viele Tiere begegnet bei meinem Marsch durch den Wald. Fledermäuse, Riesenkäfer in leuchtenden Farben und leichtfüssige Katzen haben meinen Weg gekreuzt (wobei ich nicht sicher bin, ob es Katzen waren; ihre Grösse war beachtlich und sie schlichen im Rudel daher, wobei sie mich gefliessentlich ignorierten – zum Glück). Selbst einem dunkelgrünen Drachen war ich entkommen. Nicht, dass das eine Heldinnengeschichte gewesen wäre. Nein. Das Ungetüm wurde schlicht und einfach von einen klagenden Geschrei eines Tieres abgelenkt worden. Sein Pech, mein Glück – ich hab nicht einmal ein Foto von ihm gemacht. Nicht sehr couragiert, ich weiss. Aber dann, der Papagei – auf einem Apfelbaum – inmitten dieser Wildnis.

Wie es weitergehen sollte konnte ich selbst nach intensivem Nachdenken nicht beantworten. Ich hatte nichts mehr zu essen und die Probleme wuchsen mit der Müdigkeit, was mir keine andere Wahl liess, als ein weiteres Nachtlager aufzuschlagen und erst einmal über alles zu schlafen. Dass das selten etwas nützt, kümmerte mich damals nicht. Ich legte mich unter einen Busch mit ausladenden Blättern, wickelte mich in meinen bereits leicht feuchten Schlafsack ein und bat im Geheimen den Vulkan, doch nochmals eine Nacht Ruhe zu bewahren. Und, als hätte er es gehört, brummte er nur zweimal kurz und wackelte dezent mit dem Boden – dann war es totenstill.

Zumindest bis kurz nach Mitternacht oder so, das Zeitgefühl hatte ich längst verloren. Es war noch schwärzeste Nacht und so nahm ich an, es sei nach Mitternacht – auch, weil es zu dem passte, was mich zutiefst erschreckte – ein gellender Schrei nämlich. Er zuckte durch die Dunkelheit und ich stand schon, bevor ich denken konnte. Unbeweglich starrte ich in die Dunkelheit, versuchte in Windeseile, die Geräusche dem Wind, den Bäumen oder einem Tier zuzuordnen, das mir vertraut war. Doch es gelang mir nicht.

Der zweite Schrei durchschnitt die Stille und mit ihm glomm in einiger Entfernung ein Licht auf. Tieforange und pulsierend. Die Lagerfeuerromantik war damit Vergangenheit, die Angst überfiel mich ohne Vorwarnung.

«Feuer», war mein erster Gedanke, doch damit hatte es sich auch schon, denn durch das Dickicht brach ein gewaltiger Körper. Bevor ich mir klar werden konnte, was da auf mich zukam, stand ein ausgewachsener Bär vor mir. Tatsächlich, er stand – auf zwei Beinen. Ich wollte schreien, brachte jedoch keinen einzigen Ton hervor, nicht einmal ein Krächzen. Wirklich peinlich!

«Ich bin zu spät, tut mir leid», brummte der Bär, «aber egal, steh nicht da wie eine Fahnenstange!»

«Fahnenstange!? Du nennst mich Fahnenstange!?», gab ich zurück – meine Stimme wie von Zauberhand wieder hergestellt.

«Los jetzt, weg hier, der Grüne kommt!», entgegnete der Bär und schob noch ein murrendes «Frauen», hinterher.

«Bären», schnaubte ich verächtlich, rannte aber dennoch los, um den Anschluss nicht zu verlieren. Die Schreie erstarben allmählich in der Ferne, das Orange verfolgte uns jedoch noch eine Weile, heiss und unberechenbar. Nach erschöpfenden Minuten oder Stunden, mir kam es jedenfalls sehr lange vor, konnte ich nicht mehr.

«War das der Drache?» keuchte ich, «bist Du ihm auch entkommen?»

«Drache? Das ist eine Echse!», antwortete der Bär belehrend, «Drachen gibt es nicht! Wo lebst Du denn, im Märchenland?»

«Ah, lass mich doch in Ruhe! Aber…Plan…hast Du einen Plan? Weisst Du wo wir sind? Weisst Du, wie ich den Weg finden kann?»

«Ja klar, Du bist fast raus…aber ich muss weiter» antwortete der Bär ganz vergnügt, drehte sich umständlich um sich selber, warf mir ein «Grüss mir den Papagei..der ist auch so ein Märchenliebhaber!» zu und weg war er.

«Was raus? Wo? Papagei? Wieso?»

Echt, Bären können ganz schön nerven.

Ich war todmüde, verkroch mich in meinen Schlafsack und war augenblicklich eingeschlafen. So muss es jedenfalls gewesen sein, denn als ich im Morgengrauen aufwachte, fand ich mich mitsamt allen Kleidern und meiner Umhängetasche in seinen Tiefen wieder.

Und dann der Papagei.

«Wow!» flüsterte ich, «wow».

«Blau», krächzte der Papagei, «blau».

«Was blau, wow habe ich…und überhaupt, was machst Du da auf dem Apfelbaum?»

Der Papagei neigte seinen Kopf nach links, verharrte einen Moment und krächzte von neuem: «Blau, blau, blau!»

Ich schälte mich aus meinem Schlafsack, rollte ihn zusammen und setzte mich mit einem Seufzer auf einen wuchtigen, umgestürzten Baumstamm.

«Der Bär lässt Dich übrigens grüssen», rief ich dem Vogel zu, «Weisst Du wo genau…»

«Blau», krächzte der Papagei erneut, «blau!»

Ich pflückte mir einen Apfel und sah zu meiner Freude, dass sich hinter dem Baum der Wald lichtete und ein sanfter Abhang zu einem kleinen Bach hinunter führte. Ich meinte gar, zwischen den Bäumen etwas rot schimmern zu sehen.

«Habe ich es geschafft?», fragte ich den Papagei. «Ist das da hinten ein Hau…»

«Blau» krächzte der Papagei, aufgeregter diesmal, «blau!»

Sein eingeschränkter Wortschatz strapazierte bereits meine Nerven und wollte ich mich schon auf den Weg in Richtung des roten Schimmers machen, als ich ein gedämpftes Brummen hörte. Ich duckte mich hinter den Baumstamm und verfolgte gebannt, wie etwas Dunkelblaues, das immer wieder zwischen den Bäumen aufblitzte, sich uns rasant näherte. Mir und dem Papagei.

«Blau», krächzte er nochmals.

«Blau», bestätigte ich und wir mussten beide lachen.

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