
«Etwas Regen, wohl die Untertreibung des Jahres», murmle ich vor mich hin, während ich hastig unter das schmale Vordach trete. Zaghafte Schauer hat der leicht angestrengt schauende Nachrichtenmoderator gestern versprochen. Zaghaft! Ich drehe den Regenschirm einige Male schwungvoll und die eigene Achse und klappe ihn zu. Was für ein Sauwetter! Aus dem vereinzelten Regen ist ein anhaltender Sturm geworden, angereichert mit einigen Böen, die an meinem Mantel rupfen und mir die Haare ins Gesicht schlagen. Ich rette mich ins Treppenhaus und werfe kurz einen Blick in den Briefkasten, der zu meiner Freude keine unangenehmen Überraschungen enthält. Dafür sticht mir der grellgelbe und schräg aufgeklebte Notizzettel auf dem benachbarten Briefkasten ins Auge. Nils Madsen, steht da geschrieben. Dänisch? Oder sonst irgendwas aus dem Norden, geht mir beim Betrachten durch den Kopf, als wäre es von Bedeutung.
Er ist vor zwei Wochen eingezogen, mein neuer Nachbar, zu Gesicht bekommen habe ihn allerdings noch nie. Das ist mir aber ganz recht so, denn ich möchte mich möglichst nicht mit ihm beschäftigen, da ich noch immer meiner ehemaligen Nachbarin nachtrauere. Alexa, die allerbeste Nachbarin überhaupt! Wir haben uns jeweils nachts übers Eck der Küchenfenster unterhalten, eine Zigarette nach der anderen geraucht und uns im Schutz der Dunkelheit unsere Sorgen und Träume erzählt. Wir putzten auch alle paar Wochen gemeinsam das Treppenhaus – stets mit der Gewissheit, dass wir uns danach mindestens ein Glas Prosecco gönnen würden. Glücklicherweise hatten wir auch einen ähnlichen Musikgeschmack, was hilfreich war, denn man hört wirklich alles, was in der Nachbarswohnung vor sich geht. Doch sie verliebte sich in Heinz, wurde schwanger und weg war sie. Das ist, genau genommen, übertrieben, denn sie ist nur ein paar Strassen weiter in Richtung Zürichberg gezogen. Dennoch, es ist nicht mehr dasselbe wie vorher, und obschon ich mich wirklich für sie freue, komme ich mir recht verlassen vor seither.
Mir entwischt ein Seufzer und ich muss über mich selber lachen – elende Dramaqueen, denke ich. Abrupt kehre ich dem gelben Zettel des Herrn Madsen den Rücken zu und mache mich auf, die fünf Stockwerke hochzusteigen. Es gibt zwar einen Lift bis in die vierte Etage, doch die Enge der Kabine macht mir zu schaffen, und so entscheide ich mich meist für den Gang über die Treppe. Bis vor meine Wohnung unter dem Dach sind es zweiundachtzig Stufen, die ich auch heute gewohnheitsmässig abzähle. Es sind jeweils acht Tritte, dann folgt ein Podest. Die ersten zwei Treppen bestehen allerdings aus je neun Stufen, die aus Sandstein und in der Mitte abgenutzt sind. Das übrige Treppenhaus ist mit ausladenden, hölzernen Stufen ausgestattet, die an einigen Stellen fürchterlich knarren. Prustend erreiche ich die Dachetage, halte kurz inne und schaue aus alter Gewohnheit, ob hinter dem Milchglas der gegenüberliegenden Wohnungstür wohl Licht zu sehen ist. Aber Alexa ist nicht da.
«Nein, nicht Alexa», sage ich laut vor mich hin. Kopfschüttelnd spanne ich den Regenschirm zum Trocknen auf und stolpere ungeschickt über meine eigene Türschwelle, da mich das Klingeln des Telefons in meiner Wohnung zur Eile drängt.
«Ja…Moment, ich muss erst verschnaufen», japse ich in den Hörer. «Hallo?»
«Also ehrlich, du solltest wieder einmal trainieren», höre ich die Stimme von Alexa, die sich seit jeher über meine Sportfaulheit lustig macht.
Erfreut lasse ich meine Tasche fallen und setze mich im Schneidersitz zu Boden. Unser Gespräch fliegt hin und her und es tut richtig gut, ihre Stimme zu hören. Sie erzählt mir von ihrem mittlerweile voluminösen Bauchumfang und davon, dass ihr alle Freundinnen haufenweise Babykleider schenken würden und sie gar nicht wisse, wohin damit. Sie klingt gut, etwas müde vielleicht, aber auch voller Vorfreude. Sie will natürlich alles über ihren Nachmieter wissen und so rapportiere ich, was ich bisher weiss. Dass ich ihn, und dies erscheint mir doch das Erwähnenswerteste, noch nie gesehen habe, ihn nur ab und höre, wenn er in seiner Küche hantiert. Dass seine dunkelbraunen Lederboots noch immer jeden Abend vor seiner Wohnungstür stehen oder liegen, dass er noch einen Schirmständer dort platziert und keinen Vorhang hinter das Milchglas gehängt hat.
«Das ist auch schon alles», sage ich schliesslich und kann das Bedauern in meiner Stimme sogar selber hören.
«Du und deine Lederboots», neckt mich Alexa, «ich wusste gar nicht, dass du auf so was stehst!»
«Wer hat denn gesagt, dass ich darauf…»
Sie unterbricht mich lachend.
«Egal – hör mal, hast du Zeit, mich später noch zu treffen? Bei Jessie’s? So ein bisschen wie früher, nur, dass ich dann alkoholfreies Bier trinke…»
Aber immer gern – ich freue mich sehr und zwei Stunden später sitzen wir uns gegenüber an einem der winzigen Tische an der Fensterfront. Die Bar ist heute nur spärlich besucht. Das ist selten, doch angenehm für uns und unsere Stimmbänder und wir können uns ungestört unterhalten. Ich erfahre die Details der Pannen ihres Umzugs, bekomme die neuesten Anekdoten über ihre neuen Nachbarn serviert und wir besprechen einmal mehr, ob ein Stubenwagen wohl geeigneter sei als ein Kinderbett – eine Diskussion, die wir sicher schon hundert Mal geführt haben. Sie strahlt dabei und ihre Begeisterung hat etwas Ansteckendes.
«Und du? Komm erzähl schon, dein neuer Nachbar. Er ist einer aus dem Norden, oder? Das waren doch schon immer deine Lieblingsmenschen!»
«Schon gut, hör schon auf!», erwidere ich schmunzelnd, «ich weiss ja gar nichts über ihn, nicht einmal, wie er aussieht, geschweige denn, wie alt er ist und überhaupt! Wobei seine Boots…»
Wir lachen beide laut auf und prosten uns zu. Ich berichte ihr von meinen langatmigen Besprechungen, die ich im Rahmen eines Projekts führen muss, das ins Stocken geraten ist. Und davon, dass ich dringend wieder einmal ans Meer reisen möchte. Als wir gerade wild darüber spekulieren, ob es wohl möglich wäre, dass sie mit ihrem Baby mitfahren könnte, surrt ihr Handy.
Schon beim Mithören wird mir klar, dass es wohl ein Problem gibt.
«Heinz hat sich die Hand verstaucht, oder gebrochen, er weiss es nicht. Ich muss los», sagt sie mit besorgtem Unterton. «Kann ich dich…»
«Sicher, kein Problem. Soll ich mitkommen? Kann ich irgendwie helfen?»
Sie verneint das kategorisch. Wir umarmen uns, und als sie mir von draussen im Vorbeigehen kurz zuwinkt, hat sie bereits wieder das Telefon am Ohr.
Ich nehme noch einen Schluck von meinem Rotwein und winke Jessica zu, die gerade für ein paar Jungs Bier zapft. Sie nickt kurz, kommt bald darauf an meinen Tisch und stellt mir ein volles Glas Wein hin.
«Oh entschuldige, so war das nicht gemeint», sage ich schleunigst und schaue zu ihr auf, «ich wollte eigentlich bezahlen…»
«Ja, das dachte ich mir schon», erwidert sie und beugt sich vertraulich zu mir herunter. «Der Typ da, derjenige mit der dunkelgrünen Jacke, kommt seit Kurzem jeden Abend auf einen Sprung vorbei. Er kritzelt schon die ganze Zeit in irgendwelche Notizen…ja der. Er hat dich eingeladen. Kennst du ihn?»
Ich schüttle verneinend den Kopf. Sie grinst nur, dreht sich um und geht zurück hinter die Theke. Und jetzt? Das ist mir schon lange nicht mehr passiert, wirklich. Ich nehme mein Glas, hänge mir die Tasche um und stelle mich neben den Mann in Dunkelgrün.
«Hey, besten Dank…ist dies ein Abend, um sich zu betrinken?»
Das Erste, was mir auffällt, ist seine Nase. Sie ist ziemlich gross und hat einen markanten Höcker. Ich liebe Nasen. Spezielle Nasen, meine ich.
«Nein, trinken ist zwar auch gut, aber…ich sollte morgen eine Rede halten und bin einfach noch nicht zufrieden…könntest du mal einen Blick…?»
«Was?»
Ich muss lachen, stelle mein Glas hin und schnappe mir die Notizen. Sie ist gut, die Rede, und nach einigen Einwendungen meinerseits sind wir innert Kürze in ein angeregtes Gespräch verwickelt, das immer wieder von seinem oder meinem Lachen unterbrochen wird. Mir kommt es vor, als würden wir uns schon ewig kennen und ich ertappe mich dabei, wie ich insgeheim seine Hände nach einem Ehering absuche, der glücklicherweise nicht vorhanden ist. Schon etwas peinlich, denke ich bei mir, aber auch egal. Wir finden kein Ende und Jessica wirft uns hie und da belustigte Blicke zu. Schliesslich kommt sie zu uns herüber geschlendert.
«So, ihr beiden», sagt sie entschieden und legt uns die Rechnung hin. «Zeit zu gehen, ich mache Schluss für heute.»
Erstaunt heben wir die Köpfe, mein Gegenüber schaut verwirrt auf die Uhr über der Tür und greift dabei nach seiner Brieftasche. Wir bezahlen, verabschieden uns von Jessica, und als ich ihr eine gute Nacht wünsche, zwinkert sie mir zu. Ich verdrehe nur die Augen, schlüpfe in meinen Mantel und schon sind wir draussen.
Da stehen wir dann also. Ich weiss nicht recht, wie ich mich verabschieden soll.
«Viel Glück morgen», starte ich den Versuch, schaue ihn fragend an und füge hinzu: «ich muss da lang.» Er nickt, brummt ein «Oh, ich auch» oder so ähnlich und wir gehen schweigend nebeneinander her, die Hände in unseren Taschen vergraben. Der Regen hat aufgehört, doch der Wind pfeift noch immer durch die Strassen. Vor der Nummer zehn verlangsame ich meinen Schritt und durchwühle, wie so oft, meine Tasche nach dem Hausschlüssel.
«Ich wohne hier», sagt er da unvermittelt und dreht sich zu mir um. «Das wär’s dann also, ein richtig schöner Abend ist es geworden, danke dir…für alles!»
Ich schaue ihn verdattert an, doch bevor ich etwas erwidern kann, fährt er fort:
«Ich bin übrigens Nils, wir haben uns ja noch gar nicht richtig vorgestellt!»
Noch immer sprachlos stehe ich vor ihm, neige verwirrt den Kopf und da sind sie, die tollen, dunkelbraunen Boots. Ich hebe den Kopf und bringe mein Strahlen nicht mehr aus dem Gesicht.
«Darf ich vorstellen», sage ich mit einer scherzhaften Verbeugung, «Ursula, deine Nachbarin unter dem Dach. Es ist mir wirklich eine grosse Freude!»
«Das ist ja gut, richtig gut», murmelt er und hält die Tür für mich auf.
Wir entfliehen dem Wind und platzen mit schallendem Gelächter in den Hausflur. Während wir die Treppe hochsteigen, legt er mir seinen Arm um die Schultern und fragt:
«Hast du auch bemerkt, dass die untersten zwei Treppen mehr Stufen haben und die oberen?»