Grün

Esche

Die Luft ist noch kühl, der Wind streicht angenehm um meine nackten Beine. Die einzige Entscheidung, die ich heute Morgen treffen muss, ist, welche Farbe denn das runde Tischtuch haben soll, mit dem ich den blechernen Gartentisch bedecke. Ich muss ein Tuch auflegen, da der Tisch einmal weiss gestrichen wurde. Jetzt ist er bereits etwas hellgrau und mit einigen Dellen versehen, die den Eindruck erwecken, als wäre er mir schwarzen Punkten bemalt. Doch die helle Farbe, die einmal weiss war und jetzt eben hellgrau ist, die blendet, sobald die Sonne es geschafft hat, hinter dem Blätterdach des mächtigen Baums hervorzublinzeln. Die riesige Esche überspannt mit ihren Ästen fast den ganzen Garten und vermittelt mir ein ganz ungewohntes Geborgenheitsgefühl. Heute entscheide ich mich für ein hellblaues Tischtusch, werfe es mit ausholender Geste über den Tisch und streiche es mit beiden Händen glatt. Ich liebe dieses Ritual, mein Einstieg in einen neuen Tag. Heute ist gar die Kaffeetasse in exakt dem gleichen Hellblau wie das Tuch. Fast schon ein bisschen geschäcklerisch! Das Kissen auf dem verwitterten Holzstuhl ist wild gemustert und erinnert mich an Afrika, an stolze Frauen mit langen Kleidern in den strahlendsten Farben, an Hitze, Sand und unendliche Ebenen. Nichts an diesem, meinem Ort hat auch nur das Geringste mit Afrika zu tun. Es ist alles so grün hier!

Grün war für mich immer eine Tabufarbe. Das kommt daher, dass wir in meiner Kindheit die Farben unter uns Geschwistern aufgeteilt haben. Meine Farbe war blau und wie sich herausstellt, war das prägend für mein ganzes Leben. Ja, das tönt jetzt etwas gar pathetisch, doch meine Präferenz für die Farbe Blau ist schon bemerkenswert. Lange Zeit trug ich überhaupt nur blaue Kleider und war überglücklich, als Bluejeans endlich auch bei uns zu haben waren, da sie blau, bequem und cool waren – dies bis heute sind. Manchmal frage ich mich, was wir alle eigentlich früher für Hosen getragen haben, ich meine, bevor die Jeans den Weg zu uns gefunden haben. Wie auch immer, blau war meine Lieblingsfarbe, das beteuerte ich immer wieder, schrieb es in jedes Freundschaftsbuch, wir nannten es damals Poesiealbum, in das ich all die wichtigsten Dinge zu schreiben hatte. Nebst meiner Lieblingsband, das waren die Beatles, meinem Lieblingsbuch, das war jetzt leider nicht der Türkisvogel, obschon der besser zu blau gepasst hätte, es war der rote Seidenschal und die rote Zora. Doch rot war auch ein Tabu, gehörte auch nicht zu mir und so schrieb ich doch immer ‚Der Türkisvogel’. Ich war damals absolut und felsenfest davon überzeugt, später einmal einen Indianer zu heiraten, das war mir klar. Und oh ja, das ist ganz anders gekommen, doch das ist eine andere Geschichte und deshalb also: Nach dem Lieblingsbuch folgte meine Lieblingsblume, das war Rittersporn und zu guter Letzt sollte da noch ein tiefgründiger Text hingeschrieben werden, der einem für den Rest des Lebens an eben mich oder jeden sonst, der in dieses Buch schrieb, erinnern sollte. Das war dann jeweils so etwas wie ‚Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken, nur die eine nicht, und sie heisst Vergissmeinnicht’ oder so. Zu all dem kam eben noch die Lieblingsfarbe hinzu. Blau. Blau war mein Ding. Soviel zu Prägungen im Kindesalter!

Grün gehörte nicht zu mir, die Farbe war besetzt und ich trug nie irgendwelche grünen Kleider, hatte keinen grünen Badetücher, keine grünen Zahnbürsten, keine grüne Bettwäsche, keine grünen Schuhe, keinen grünen Schulthek, keine grünen Sonnenbrillen, kein grünes Briefpapier und benutzte keine grüne Tinte. Ich kaufte nicht mal grüne Präservative. Das Einzige, was mir blieb, ist der grüne Daumen und darüber freu ich mich. Grün beruhigt mich auch. Das wird mir bewusst, wenn ich so in dieses leicht im Wind wogende Grün hinaussehe. Oft ist zu lesen, dass dieser Effekt eigentlich der Farbe Blau zugeschrieben wird, doch wie gesagt, Blau ist meins und hat keinen anderen Effekt auf mich, als dass es einfach meine Farbe ist. Blau ist ich.

Die Sache mit den grünen Kleidern ist ja eh immer wieder ein Thema. Die meisten Menschen sehen ganz blass und eher kränklich aus in grünen Kleidern. Ich war jedoch einmal zu einer Hochzeit eingeladen, an der die Braut tatsächlich grün trug. Knallgrün, mit Rüschen und Schleifen. Mutig, fand ich damals, denn das Getuschel ging gleich los. Doch sie hat unbestritten wunderschön ausgesehen in diesem Froschgrün. Und die Ehe hat bis heute gehalten – vielleicht bringt Grün also auch Glück! Aber für mich ist und bleibt Grün ein Tabu, nicht meins. Doch hinsehen und die unzähligen Grüntöne aufsaugen, das tue ich sehr gerne. Das gefällt mir. Einfach wunderschön. Verführt mich auch zum Träumen und die Gedanken abschweifen zu lassen. Das kann nur die Farbe Grün.

Die Sonne hat mittlerweile den Weg durch das Blätterdach der Esche gefunden und blendet mich. Ich ziehe mich in den hinteren Teil des Gartens zurück, strecke meine Beine aus und geniesse den Wind, der mir meine Haare zerzaust und mich dazu bringt, endlich einen Zopf zu flechten, damit ich auch wieder klar sehe. Oder wenigstens klarer. Denn ich kann meine Gedanken gar nicht im Zaum halten. Sie schweifen umher und meine Augen bleiben derweil immer wieder an einem Rosenbäumchen mit rosa Knospen oder an den hohen Stängeln mit den filigranen weissen Blüten hängen. Es gibt so viele verschiedene Pflanzen, Farben und Formen hier. Ich stelle mir vor wie es wäre, so klein wie die Däumeline zu sein und durch diesen Dschungel zu laufen, in einer Blüte zu schlafen und auf dem Rücken der Vögel zu fliegen. Solche Dinge fallen mir ein, wenn ich ins Grüne schaue. Ich sehe Welten, die vor mir noch nie jemand entdeckt hat. Das denke ich zumindest. Es ist toll und macht den Kopf frei.

Unweigerlich denke ich darüber nach, ob ich eigentlich auch an einem ganz anderen Ort leben könnte. Möchte. Sollte. Sollen deshalb, weil es ja vielleicht gut tun würde. An einem Ort, der dem diesen ähnlich wäre. Vom Grün her meine ich. Würde, sollte, könnte – da bin ich wieder. Also jetzt mal weg von diesem Konjunktiv. Kann ich? Will ich? Soll ich es wagen? Sind Däumeline-Welten irgendwo auf dieser Kugel zu finden? Wie oft habe ich mir schon überlegt wie es wäre, an einem Ort zu leben, an dem es warmen Wind gibt, Weitsicht – weite Weitsicht, Meerrauschen, wogende Gräser, würzige Düfte. Und zweifelsohne, das tönt ebenso dämlich wie ein Werbetext von Club Med. So ausgetreten sind diese Wörter. Dennoch sind es diese Wörter, die mich zum Träumen bringen, die mich Möglichkeiten ausloten lassen, bar jeder Machbarkeitsstudie. Ich rede hier nicht vom Badeurlaub all inclusive. Ich rede von einem anderen Leben.

Grün führt mich in Versuchung, Pläne zu schmieden. Und das ist das Allerbeste überhaupt.

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