
Der Wind trifft uns mit voller Kraft, als wir aus dem geschützten Raum der Seilbahnstation hinaustreten. Und der Regen erst! Ungastlich präsentiert sich der Hausberg heute, dennoch stapfen wir beherzt die Stufen hinunter und hinaus in den Wald. Wir können keine fünf Meter weit sehen, die Bäume verschwinden unmittelbar vor uns im dichten Nebel und als einziges Geräusch hören wir das Rauschen der Blätter. Boa, sagt der kleine Nico und schaut vorsichtig unter seinem Cars-Schirm hervor, hast du etwas Süsses dabei? Hab ich zum Glück – mit Süssem läuft es sich besser in dieser Kälte, findest du auch? Das Schokoladenreiheli in der einen und den Schirm in der anderen Hand halten, das ist der Plan, doch bei diesem Sturm geht das gar nicht. Schau mal, höre ich von unten, ich fliege davon! Ich greife nach der roten Spitze, erwische sie sogar und klappe den Schirm zu. Komm Nico, Pause. Wir essen zuerst ein wenig Schokolade und dann geht’s weiter. Gesagt, getan. Im Windschatten einer mächtigen Tanne kauern wir am Boden, verschlingen ein Schokoladentäfeli nach dem anderen und müssen ein bisschen lachen ob der seltsamen Situation – so ganz alleine im sturmgepeitschten Wald, mitten im Nebel und bereits etwas nass.
Weisst du, flüstert Nico, wir müssen bald weiter, sonst findet uns noch der Wolf. Wolf? Hier gibt es keine Wölfe, du musst keine Angst haben. Das sage ich, ohne nachzudenken, denn mir wird mit einem Schlag klar, dass es wohl einwenig furchterregend sein muss für einen vierjährigen Jungen. Angst – also ich habe doch keine Angst, entgegnet Nico beleidigt. Ich bin ein Löwe, und Löwen gewinnen immer beim Kampf mit Wölfen. Hab keine Angst, ich bin stark und werde dich beschützen!
Wer ist hier wie alt und wer beschützt hier wen, möchte ich sagen, kann mich aber gerade noch zurückhalten, da es eigentlich ein ganz angenehmes Gefühl ist, von einem Löwen beschützt zu werden. Ist mir bis anhin noch nie vergönnt gewesen. Wunderbar.
Wir raffen uns auf, ziehen die Kapuzen enger zu und Nico, der Löwe, verzichtet kategorisch auf seinen Cars-Schirm, der jetzt ja wirklich nicht zu einem wilden Tier passt. Der Regen und der immer noch starke Wind scheinen den Kleinen nicht zu stören, mich jedoch schon und ich beginne ‚Oh du goldigs Sünneli‘ vor mich hin zu summen mit der Idee, dass es dadurch vielleicht etwas wärmer würde. Nico hebt den Kopf, strahlt mich an und sagt, dass er dieses Lied auf kennt und so singen wir lautstark gegen den Regen und die Kälte an, was jedoch nur für kurze Zeit auch wirklich das klamme Gefühl vertreibt. Eins ums andere Mal singen wir, die roten Röösli sind als nächstes auf dem Programm, dann kommt das Regenbogenlied, von dem ich den Text noch immer nicht richtig kann und schliesslich sind wir bei ‚Räge Räge Tröpfli‘ und also wieder beim miesen Wetter angekommen. Nico fragt nach mehr Süssem, ich frage mich, wann und ob der Regen wohl aufhört und so hat jeder sein eigenes Problem. Das eine lösbar, das andere nicht.
Anstatt heller wird es aber immer dunkler und langsam ist mir die ganze Szene selbst etwas unheimlich. Plötzlich bleibt Nico abrupt stehen, fasst meine Hand fester und fragt – hast du das gehört? Da kommt ein Ritter. Ich spitze meine Ohren, höre aber nichts ausser dem prasselnden Regen auf meinem Schirm und dem pfeifenden Wind. Ein Ritter, frage ich zurück, kommen die nicht immer zu zweit oder zu dritt? Reiten die ganz alleine? Bist du sicher, dass es nur einer ist? Nico legt den Kopf ein bisschen nach links und lauscht angestrengt. So sieht es jedenfalls aus und prompt sagt er leise – es ist mehr als einer, vielleicht vier? Vier Ritter. Ich höre nichts, schäme mich fast und überlege mir, was die Ritter denn wohl mitten im Wald bei diesem Wetter tun würden. Nico bleibt stehen, schaut mich an und sagt absolut überzeugt, dass sie sicher nach einem Drachen suchen würden, das täten Ritter nämlich immer. Deshalb trügen sie Rüstungen, damit der Drachen ihnen nichts tun können, dabei seien Drachen ja gar nicht böse. Und erneut schaut er mich erwartungsvoll an. Hörst du? Das ist das Klirren der Schwerter, komm wir verstecken uns. Also kauern wir kurz darauf wieder hinter einem dicken Baumstamm und ducken uns ins Unterholz. Hoffentlich finden sie den Drachen nicht, flüstert Nico mir ins Ohr. Vielleicht finden wir ihn zuerst und dann kann er uns etwas aufwärmen mit seinem Feuer. Ich muss mich kurz an den Gedanken gewöhnen, dass wir also Angst haben vor Rittern und keine vor Drachen. Gut. Suchen wir also einen Drachen.
Ein halbe Stunde später ist noch immer kein Drachen in Sicht und wir kommen endlich aus dem Wald. Was nicht besser ist, wie ich sofort merke, denn der Wind fegt ungehindert über die braunen Felder und Nico wirft es fast um. Das ist ihm jetzt doch zuviel und er bleibt stehen uns sagt einfach, dass er nicht mehr weiter gehen kann. Ich bin müde, klagt er, ich mag jetzt nicht mehr. Lass und hier bleiben. Nein nein nein, das geht so nicht! Mitten in diesem Sturm und er ist schon sehr nass und ich mittlerweile auch. Soll ich dir eine Geschichte erzählen, frage ich und sofort ist er wieder hellwach und bereit, weiterzugehen. Mit Drachen, grossen Drachen, ist seine einzige Bedingung und so erzähle ich ihm die Geschichte vom kleinen Max, dem es andauernd langweilig ist und er deshalb immer im Wald herumstreicht und dabei eines Tages ein Drachenei findet. Ein grosser Drache, habe ich gesagt, kommt es leicht mürrisch von unten und so lasse ich den schon nach einigen Stunden geschlüpften Drachen im Eiltempo wachsen und riesengross werden. Nico stapft mucksmäuschenstill neben mir her und beklagt sich auch nicht mehr über den beissenden Wind, der ihm andauern die Kapuze vom Kopf fegt. Während die Drachengeschichte immer dramatischer wird, kommen wir an einem längst verlassenen Gasthaus vorbei, das inmitten dieser Nebelschwaden wie eine Kulisse vor uns auftaucht. Mich streifen Gedanken an Shining und ich bin froh, dass wir den unheimlichen Ort bald hinter uns lassen. Ich überlege mir, wie ich denn die Geschichte enden lassen soll, da bleibt Nico jäh stehen, schaut mich kurz an und sagt – da, jetzt kommen die Nebelmonster. Er steht ganz still und starrt in das hellgraue Nichts vor uns. Ich deute dies als Angst und möchte grad etwas Beruhigendes sagen, was natürlich ganz falsch ist. Psst, zischt er mich an, leise sein! Die Monster verschwinden sonst. Ich will sie sehen. So stehen wir wie angewurzelt mitten auf dem Weg, der Regen strömt unaufhörlich, der Wind pfeift uns um die Ohren und ich sehe kein Monster. Siehst du eines, frage ich leise, oder können wir ganz ganz vorsichtig weitergehen? Nach dem dritten Mal Fragen setzt er sich wieder in Bewegung, wachsam und langsam, um ja kein Monster zu verscheuchen. Weisst du, die sind überall, die Monster. Unter meinem Bett, in der Kommode, hinter dem Duschvorhang, im Keller. Und mein Lieblingsmonster wohnt im kleinen Zelt in meinem Zimmer, weil es meine Stofftiere so gern hat. Es ist immer dort drin und macht sich breit und ich habe dann fast keinen Platz mehr. Es ist hellgrün mit dunkelblauen Punkten und unterhält sich am liebsten mit den Teddybären. Und weisst du was, es schläft nie! Ich bin beeindruckt. Nie, frage ich, hast du denn mal nachgesehen in der Nacht? Ja, aber du darfst das niemandem erzählen. Ich bin nachts einmal aufgestanden und es war immer noch dort im Zelt und hat Purzelbäume geübt mit den Bären. Du Nico, siehst du denn jetzt auch eines? Nein, die kennen mich halt noch nicht, die Nebelmonster, darum verstecken sie sich. Aber wir können etwas Schokolade hier lassen, das freut sie sicher.
Natürlich blieb die ganze restliche Schokolade am Wegrand auf einem Baumstamm zurück und wir marschierten ohne Verpflegung weiter. Wir sind bald da, sage ich mehr zu meiner als zu seiner Beruhigung. Ich habe kalt, ich bin nass und bin dann wirklich froh, wenn wir unser Ziel endlich erreichen. Dem Kleinen geht es auch so, er wird langsamer, hält meine Hand fester und murrt leise vor sich hin. Bald, sage ich nochmals, diesmal etwas bestimmter, bald kommt das Haus in Sicht. Soll ich es herzaubern, fragt mich Nico nach einigen Schritten und schaut mich erwartungsvoll an. Oh ja, das wäre ganz wunderbar, versuch es doch, lache ich und höre ihn sogleich drei Wörter rufen, die ich nicht verstehe, ihm jedoch vertraut scheinen. Und voilà, vor uns taucht in diesem Moment der Bauernhof auf, schemenhaft nur, aber doch klar erkennbar. Nico springt mit einem Ruck auf und strahlt mich an. Hast du gesehen? Ich kann zaubern, ich kann zaubern! Ich lege meinen Schirm auf den durchtränkten Weg, knie mich hin und drücke Nico an mich. Weisst du, flüstere ich ihm ins Ohr, ich möchte wirklich auch nochmals vier sein.