
Ich ziehe die roten Stulpen bis ganz über meine Finger, drehe den Kopf leicht nach links und beneide all die Menschen, die hinter der Fensterscheibe bei warmem Licht angeregt plaudern. Bitterkalt ist es heute Abend, die Bise macht es auch nicht besser und ich stapfe, so schnell es eben geht, in Richtung Haupteingang. Es hat sich eine lange Warteschlange aus leicht gereizten Menschen gebildet, die endlich eingelassen werden möchten. Also stelle ich mich hinten an und versuche mir vorzustellen, es sei ein lauer Sommerabend und fünfundzwanzig Grad. Das funktioniert aber nicht.
Hinter und vor mir sind die meisten am Telefonieren und ich frage mich, wie sie das schaffen, ohne dass ihnen die Finger abfrieren. Es ist und bleibt ein Rätsel, bis endlich die Türen geöffnet werden und alle zusammen in die Wärme strömen. Die Türsteher, ganz in schwarz, machen sich breit und sorgen ohne eine Miene zu verziehen dafür, dass niemand über den Haufen gerannt wird, sich vordrängt oder versucht, ohne Ticket in den Saal zu gelangen. Einige Minuten später bin ich drin, habe den Mantel abgegeben, den Pullover um die Hüften geschlungen und das Halstuch und die Mütze in der Tasche verstaut. Jetzt ein Bier!
Der Saal ist noch fast leer. Ich liebe diesen Moment. Es ist wie eine Choreografie, bei der die Besucher die Hauptakteure sind. Zuerst ist der Saal noch unberührt, hie und da ein Gläserklirren von den Barkeepern, die sich für den Ansturm bereit machen und ein Hüsteln vom Mann hinter dem Mischpult, der noch an irgendwelchen Reglern die letzten Einstellungen markiert. Alles taghell. Dann strömen die Leute herein, der Raum füllt sich, die Stimmen werden laut, der Platz wird knapp bis schliesslich kein Durchkommen mehr ist. Dann die Musik, die Begeisterung, das Klatschen bis zum Umfallen. Aber zum Schluss ist der Raum dann wieder genau wie jetzt: Fast menschenleer, nur hie und da ein Gläserklirren von den Barkeepern, die die Theke abräumen und der regelmässig dumpfe Ton der Kabel, die auf dem Boden aufschlagen, wenn die Crew zusammenräumt. Und alles ist vorbei.
Doch jetzt erst mal ein Bier.
Die Frau neben mir gibt ihre Bestellung für vier Cüpli an den Tresenmann, während sie zeitgleich mit jemandem am Telefon spricht und ich wundere mich, wie das wohl am anderen Ende tönen mag, wenn mitten im Satz von Cüpli die Rede ist. Wie auch immer, der Saal füllt sich und ich habe das Glück, einen etwas erhöhten Platz zu finden, von dem aus ich die ganze Bühne überblicken kann. Ich freue mich richtig! Es wird dunkel und aus den Lautsprechern kommt die Durchsage, dass man während des Konzerts auf Bild- und Filmaufnahmen mit dem Handy verzichten soll, da die Helligkeit der Smartphonebildschirme die Zuschauer störe. Während der Zugaben sei es dann aber erlaubt. Gemurmel reihum, die Handys werden verstaut, das Geraschel verstummt und dann ist er da, der Stephan. Charmant und wortgewandt und mit Geschichten. Zum Beispiel der, dass ein Kameramann mit seiner Handkamera das ganze Konzert aufzeichnen und er sich dafür quer durch den Saal kämpfen würde und wenn er neben einem durchgehe, könne man ihm ganz leicht über seine Schulter streichen und dann hätte man sieben Jahre Glück. Warmes Lachen im ganzen Saal, er hat das Publikum bereits für sich. Und es ist ein absolutes Hammerkonzert! Ganze Welten tun sich auf, neue und vertraute, Zeitreisen rückwärts und vorwärts, grossartige Musiker rundum, ganz grosses Kino.
Nur – ein bisschen weiter vor mir steht ein Paar, das während Dreiviertel des Konzerts tatsächlich pausenlos SMS schreibt, als gäbe es kein Morgen. Und wie angekündigt, ist der Bildschirm gleissend hell, die gegenseitigen Kommentare des Paares laut und ihr Augenmerk irgendwo auf der Welt, nur nicht in diesem Saal. Ich bin kurz davor zu fragen, ob sie nicht das Handy wegpacken könnten, als eine junge Frau neben mir laut und deutlich sagt: Geht doch nach draussen, wenn ihr lieber SMS schreibt als Musik hört. Das Paar schaut sich darauf lachend an und er fragt verständnislos: Weshalb? Rundum ein Murren und zwei Minuten später bahnen sie sich einen Weg nach draussen.
Ich komme mir irgendwie blöd vor, denke, ich bin jetzt total daneben, dass mich das auch gestört hat und dass ich langsam alt bin zickig werde. Das kann ja alles sein, doch ich will einfach Musik hören und abtauchen. Und das tue ich dann auch bis zur fünften Zugabe.
Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach, wie das wohl ist, wenn man physisch an einem Ort ist, dies aber nicht geniessen kann, ohne der halben Welt mitzuteilen, dass man eben grad an diesem speziellen Ort ist und es ganz toll ist und was weiss ich noch alles. Doch was blieb, waren die Geschichten, die Freude der Musiker auf der Bühne, die Musik und der Abend überhaupt. Und dass besagter Kameramann sich irgendwann um mich herum schlängelte, ich ihm leicht über seine linke Schulter strich und vor mich hin flüsterte: Sieben Jahre Glück.