Es war augenblicklich klar. Mit diesem weihnachtlichen Voroster-Schneegestöber konnte ich nichts anfangen. Also verordnete ich mir einen dicken, weichen Pullover, meine Kuschelsocken und eine Tasse Kaffee, die ihren Namen auch verdient hatte. Richtig gross, ich musste sie mit beiden Händen halten. Und ich schickte mich auf eine Reise, eine Fotoreise quer durch mein 7328 Fotos umfassendes Archiv, das schon seit geraumer Zeit darauf wartete, dass es endlich ausgemistet und geordnet würde. Heute war also der Tag, heute ging ich auf Reisen.

Das würde stundenlang dauern, meine Augen total ermüden und meinen Kopf zum Brummen bringen. Vermutlich würde man dieses Brummen dann in der ganzen Wohnung hören, doch das war jetzt nicht von Belang. Compi aufklappen, einloggen und da stand ich dann, an diesem Strand. Frühling wars, recht kühl und windig, was mich unaufhörlich vorantrieb, immer schön der Wasserlinie nach. Kilometerweit konnte ich sehen, die herandonnernden Wellen sprühten die Gischt bis hoch in die Luft und liessen die entferntesten Hügel ganz milchig erscheinen. Ein unscharfes Bild hinter Milchglas. Nur alleine davon zählte ich 37 Bilder. 37 Fotos von im Dunst versinkenden Hügeln. Und das war erst der Anfang. Kein Mensch weit und breit, ich hatte diese ganz Herrlichkeit für mich alleine. Laut singend stapfte ich durch den Sand, absolut hemmungsfrei sang ich von verschollenen Lieben, von Strassen die nach Nirgendwo führen, von starken Frauen, die sich einen Dreck um die Mannsbilder scheren und machte so manchem Rockstar Konkurrenz. Es tat total gut und ich konnte mich mit meiner noch immer heissen Tasse Kaffe haargenau daran erinnern, wie meine Stimme langsam zu einem Krächzen wurde, was dem Wetteifern mit Janis Joplin jedoch keinen Abbruch tat. Davon gibt es zum Glück keine Fotos. Von den schäumenden Wellen, den skurrilen Gebilden aus Schwemmholz und unzähligem Strandgut aber Hunderte. Entscheidungen waren gefragt, was behalten, welche wegschmeissen resp. in den aufnahmebereiten Papierkorb unten rechts auf dem Desktop verschieben. Was dabei auffällt, sind Schuhe. Wo auch immer ich hinschaue, sehe ich Schuhe.

Das war damals so, ist auch jetzt im frühlings-winterlichen Zürich so. Den ersten, über den ich buchstäblich stolperte, war ein pinkfarbener FlipFlop.

Hat mich daran erinnert, dass der Sommer wohl auch noch kommen würde, damals wie heute. Ich stand nämlich in Wanderschuhen an diesem tosenden Meer und konnte mir eine Welt, in der Flipflops eine Rolle spielten, nicht so richtig vorstellen. Jedenfalls war es die Farbe Pink, die mich auch zum zweiten Fund lockte. Knipsen, einige Schritte weitergehen, knipsen. Es war wie ein Sog.

Ganz offensichtlich war das so, denn es waren 176 Fotos auf der Festplatte, nur Schuhe. Schuhe im Sand. Und immer nur einer.

Wurden diese jeweils angespült? Oder hier vergessen? Einzelne Schuhe erinnern mich sogleich an Krimis, Verbrechen, eilig verlassene Wohnungen. Einzelne Schuhe haben etwas mit Gehetze zu tun, damit, etwas unabsichtlich zurück zu lassen. Dies später zu vermissen. Mit nur einem Schuh kann ich nicht gehen, ich muss den zweiten dann wohl auch noch ausziehen und schon sehe ich Kinder, die barfuss einer Strasse entlang laufen, rennen, gejagt werden. Mit müden Gesichtern, leeren Blicken, ängstlichem Umschauen. Einzelne Schuhe haben auch etwas zu tun mit verfolgt sein, ich sehe Bilder von leergefegten Strassen, wo hier und dort ein Schuh liegt. Höre Sirenen oder lediglich Totenstille. Einzelne Schuhe zeugen von Naturereignissen, heftigen Naturereignissen, die nur noch Verwüstung und Gegenstände zurücklassen, die nicht zusammen gehören – zum Beispiel einzelne Schuhe und Salatsiebe.

Und hier, an diesem einsamen Strand, dunkelgrün die Pinien zu meiner Linken, tosend und brüllend die brechenden Wellen zu meiner Rechten, hier war der ganze Strand voller Schuhe. Nicht dass dies die einzigen Fundstücke gewesen wären. Von der Zahnbürste bis zum WC-Deckel, vom kunstvoll geflochtenen Korb bis hin zur in Abendgarderobe gekleideten Barbiepuppe . Es war alles zu finden. In allen Farben, in jedem möglichen Stadium der Verwesung. Kunststoff machte da ganz klar das Rennen. Unverwüstlich. Seit hundert Jahren gibt es Plastik – und schon ist alles voll davon. Als ich jedoch das da fand, war ich richtig erleichtert, dass er einst erfunden wurde, der Plastik.
